Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 10.06.2010 zu einem arbeitsrechtlichen Verfahren entschieden, das in letzter Zeit im Rampenlicht der Medien stand, wie kein anderes arbeitsrechtliches Verfahren und dessen bisheriger Verlauf zu Recht für Empörung in der Öffentlichkeit gesorgt hat – der Fall “Emmely“. Die Kündigung ist unwirksam, meint das BAG! Diese Entscheidung hat für die Beurteilung von Bagatellkündigungen durch Arbeitsgerichte weit reichende Folgen.
In diesem Fall ging es um eine so genannte Bagatellkündigung. Kündigungen wegen angeblicher Vermögensdelikte, bei denen es nur um einen geringen Wert geht, sind bei Arbeitgebern derzeit „en vogue“ – Bienenstichfall, Essensmarkenfall, Kinderbettfall, Maultaschenfall – um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Auch die Autoren dieses Blogs müssen immer wieder für Mandanten gegen solche Kündigungen kämpfen. Oft sucht der Arbeitgeber gezielt nach einem vermeintlichen Fehlverhalten des Arbeitnehmers, das ihm zuvor schlichtweg egal war, um ihn schnell und einfach loszuwerden. Im vom BAG zu entscheidenden Fall war einer seit 1977 beschäftigten Kassiererin wegen der Einlösung angeblich von ihr aufgefundener Leergutbons im Wert von 1,30 € fristlos gekündigt worden. Das Arbeitsgericht Berlin und das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg waren der Ansicht, dass die Kündigung wirksam ist. Das Landesarbeitsgericht hatte seine Entscheidung u.a. damit begründet, dass die klagende Kassiererin im Kündigungsschutzverfahren eine Arbeitskollegin und ihre Tochter belastet hatte.
Begründet hat das BAG seine Entscheidung, wonach die Kündigung unwirksam ist damit, dass das Vertrauen durch das einmalige Delikt nach der langen Betriebszugehörigkeit nicht vollkommen „aufgezehrt“ worden sei. Zudem sei die Schädigung relativ niedrig gewesen.
Das BAG hatte sich eigentlich nur mit der Frage zu befassen, ob Arbeitsgerichte bei der Urteilsfindung das Verhalten des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess berücksichtigen dürfen. Zuvor hatte es die Revision gegen das klageabweisende Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg im Fall “Emmely“ wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Dem Fall kam eine solche grundsätzliche Bedeutung nach Ansicht des BAGs zu, weil durch das BAG bislang die Rechtsfrage noch nicht abschließend geklärt war, ob das spätere prozessuale Verhalten eines gekündigten Arbeitnehmers bei der erforderlichen Interessenabwägung als mitentscheidend berücksichtigt werden kann. Das BAG hat hierzu wie folgt Stellung genommen: Das Prozessverhalten der Klägerin könne nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Es lasse keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfe sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung.
Zum Fall (Quelle: Bundesarbeitsgericht.de):
Der Fall betrifft eine sog. „Bagatellkündigung“. Die im Jahre 1958 geborene Klägerin ist seit April 1977 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen beschäftigt. Die Beklagte betreibt diverse Lebensmittelläden; in einem solchen ist die Klägerin bei einer Arbeitswoche von 30 Stunden als Kassiererin tätig. Ende des Jahres 2007 beteiligte sich die Klägerin – ursprünglich als eine von mehreren, schließlich als einzige der insgesamt 36 Beschäftigten ihrer Filiale – an drei jeweils einige Tage andauernden Streiks.
Am 12. Januar 2008 fand eine Verkäuferin der Filiale im Kassenbereich des sog. Backshops zwei Leergutbons im Wert von 48 Cent bzw. 82 Cent. Beide Bons trugen das Datum dieses Tages. Der Filialleiter bat die Klägerin, die ihm übergebenen Bons für den Fall, dass sich ein Kunde melden würde, an einer geeigneten Stelle im Kassenbüro abzulegen. Würde eine solche Meldung ausbleiben, sollten sie als sog. Fehlbons bei der Leergutabrechnung verbucht werden. Die Klägerin kam der Bitte nach und legte die Bons an einer offen einsehbaren Stelle des sämtlichen Mitarbeitern der Filiale zugänglichen Kassenbüros ab.
Am 22. Januar 2008 kaufte die Klägerin selbst in der Filiale ein. Dabei übergab sie der kassierenden Kollegin zwei Leergutbons im Wert von 48 Cent und 82 Cent, die zu ihren Gunsten registriert wurden und den Einkaufspreis um 1,30 Euro minderten. Die Bons trugen das Datum vom 12. Januar 2008 und waren nicht, wie dies aufgrund einer geltenden und praktizierten Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter abgezeichnet. Die beiden seinerzeit aufgefundenen Leergutbons befanden sich nicht mehr im Kassenbüro. In den zur Aufklärung der Herkunft der eingelösten Bons mit der Klägerin geführten Gesprächen gab diese als denkbare Möglichkeit für ihren Besitz an den Bons an, dass sowohl ihre Töchter Zugang zu ihrem Portemonnaie hätten als auch eine Kollegin ihr Portemonnaie in Händen gehabt habe, da sie diese am 21. oder 22. Januar 2008 gebeten habe, es in ihren Spind zu legen. Mit Schreiben vom 22. Februar 2008 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis nach Anhörung des Betriebsrats fristlos, hilfsweise fristgemäß zum 30. September 2008.
Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Feststellung der Unwirksamkeit dieser Kündigung. Sie behauptete, sie habe jedenfalls nicht wissentlich Bons eingelöst, die ihr nicht zugestanden hätten. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten habe die Beklagte allenfalls eine Abmahnung aussprechen können. Die Beklagte war der Ansicht, ihre Kündigung habe das Arbeitsverhältnis beendet. Die Klägerin habe schwerwiegend gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen. Jedenfalls bestehe der dringende Verdacht eines erheblichen Vertrauensbruchs. Einer Abmahnung habe es nicht bedurft.
Übrigens: Beamte hingegen müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wegen Bagatellen nicht gleich mit einem Rauswurf rechnen:
„Bei der Veruntreuung amtlich anvertrauten oder zugänglichen Geldes kann von der Entfernung aus dem Dienst ausnahmsweise auch dann abgesehen werden, wenn der veruntreute Betrag gering ist und durch das Dienstvergehen keine weiteren wichtigen öffentlichen oder privaten Interessen verletzt sind. Die Prüfung der Geringwertigkeit orientiert sich an der Rechtsprechung zu § 248 a StGB.“ (BVerwG 24.11.1992 – 1 D 66/91)
Nach § 248 a StGB werden der Diebstahl und die Unterschlagung geringwertiger Sachen
nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Geringwertigkeit wird von der Rechtsprechung in der Regel bei einem Wert angenommen, der ca. 50 € nicht übersteigt.
und
„Der Milderungsgrund des Zugriffs auf geringwertige Güter kann einem Postbeamten ausnahmsweise auch dann zugute kommen, wenn er trotz Verstoßes gegen das Postgeheimnis auf Waren- bzw. Werbesendungen zugreift, die für ihn von außen unzweifelhaft erkennbar nur einen insgesamt sehr geringen Warenwert besitzen“ (BVerwG 1998, 1 D 20/96)
Daniel Labrow
Rechtsanwalt
Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte