Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 19.04.2012 in der Rechtssache C- 415/10 entschieden, daß Stellenbewerber bei einer Ablehnung der Bewerbung grundsätzlich auch dann keinen Auskunftsanspruch haben, wenn sie eine Diskriminierung vermuten. Die Schlagzeilen in der Presse fallen auf den ersten Blick in der Bewertung sehr unterschiedlich aus. „EuGH stärkt Rechte abgelehnter Stellenbewerber“ textet die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „Firmen müssen Absage nicht begründen“ die Süddeutsche Zeitung. Beide Zeitungen haben Recht.
Das Urteil des EuGH schafft schon deswegen keinen allgemeinen Auskunftsanspruch für alle abgelehnten Stellenbewerber, weil der EuGH nur auf der Basis der EU-Diskriminierungsrichtlinien zu entscheiden hatte, ob möglicherweise wegen den in der Richtlinie genannten Merkmalen diskriminierte Bewerber einen solchen Anspruch haben.
Geklagt hatte eine Systemtechnikerin, die sich auf eine passende Stellenausschreibung beworben hatte und ohne Einladung zum Vorstellungsgespräch eine nicht näher begründete Absage erhalten hatte. Die aus Russland stammende Frau fühlte sich diskriminiert und klagte nach dem deutschen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Schadensersatz ein und wollte die Bewerbungsunterlagen der erfolgreichen Bewerber sehen.
Das Bundesarbeitsgericht hatte, nachdem das Arbeitsgericht Berlin und das Landesarbeitsgericht Berlin die Klage einer Bewerberin auf Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgelehnt hatten, die Sache dem EuGH vorgelegt, weil dieser für die Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU zuständig ist (stark vereinfacht dargestellt, wir berichteten bereits über die Vorlage.
Das zeigt zum einen, dass Kläger, die sich auf eine Diskriminierung berufen, in Deutschland immer noch einen langen Atem haben müssen und in der ersten und zweiten Instanz schlechte Karten haben. Zum anderen wird dadurch deutlich, daß das Urteil des EuGH nur für solche Bewerber von Bedeutung ist, die sich auf eine tatsächliche oder vermeintliche Diskriminierung berufen können, also eines der in der Richtlinie bzw. dem deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgeführten Diskriminierungsmerkmale aufweisen.
Nach § 1 AGG ist eine Benachteiligung verboten, aus Gründen
der Rasse,
der ethnischen Herkunft,
des Geschlechts,
der Religion,
der Weltanschauung,
einer Behinderung,
des Alters oder
der sexuellen Identität.
Nur Bewerber, bei denen eines der genannten Merkmale zutrifft, können sich daher überhaupt auf das EuGH-Urteil berufen.
Selbst bei Bewerbern mit Diskriminierungsmerkmalen, in entschiedenen Fall einer aus Russland stammenden (Diskriminierungsmerkmal: Herkunft) 50-jährigen (Diskriminierungsmerkmal: Alter) Systemtechnikerin (Diskriminierungsmerkmal: Geschlecht), sieht der EuGH allerdings nicht automatisch einen Auskunft auf Begründung der Ablehnung der Bewerbung durch den Arbeitgeber.
Daher trifft die Aussage der Süddeutschen Zeitung zu, daß Firmen Absagen auch nach dem EuGH Urteil nicht begründen müssen. Trotzdem hat der EuGH mit seinem Urteil die Rechte von Bewerbern gestärkt. Denn der EuGH hat erkannt, daß Bewerber natürlich schlechte Karten haben, eine Diskriminierung nachzuweisen, wenn der Arbeitgeber die Absage nicht begründet. Dann muss „auf Verdacht“ geklagt werden, mit erheblichen Kosten für Anwalt und Gericht, auf denen der mutige oder misstrauische Kläger nach § 12a Arbeitsgerichtsgesetz in erster Instanz auch noch hängen bleibt, selbst wenn er gewinnt. Hier hilft der EuGH, der die deutschen Gerichte verpflichtet, diese schwierige Lage im Prozeß zu berücksichtigen. Dies soll nach Auffassung des EuGH dadurch geschehen, daß die fehlende Begründung der Absage als Indiz für eine Diskriminierung gesehen werden kann. Weitere Indizien können sein, so der EuGH, daß
– der Bewerber den Anforderungen der Stellenanzeige entspricht
– nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde
– auch bei einem weiteren Auswahlverfahren nicht berücksichtigt wurde
Insbesondere die Nichteinladung zur Vorstellung trotz Eignung für die Stelle kennt das deutsche Recht als Indiz bisher nur nach § 81 SGB IX bei Schwerbehinderten.
Der EuGH hat Deutschland und die deutschen Gerichte verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu „ergreifen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung dieses Grundsatzes vorgelegen hat.“
Die deutschen Gerichte sahen die Beweislast bislang viel stärker beim abgelehnten Bewerber, wie die beiden erstinstanzlichen Entscheidungen im Fall der Systemtechnikerin Meister zeigen. Dies wird sich sicher künftig ändern. Arbeitgeber müssen, wenn bei Bewerbern Diskriminierungsmerkmale vorliegen, damit rechnen, daß eine fehlende Begründung sich nachteilig in einem Arbeitsgerichtsprozeß auswirkt. Da die Merkmale „Alter“ und „Geschlecht“ bei jedem Bewerber (auch bei jungen und/oder bei männlichen Arbeitnehmern) eine Rolle spielen können, könnten Klagen zukünftig leichter begründet werden.
Der EuGH hat ausserdem in einem Nebensatz den deutschen Arbeitsgerichten, die bei der Diskriminierung von Frauen wegen der sog. gläsernen Decke auch statistische Daten als Indizien für eine Diskriminierung wegen des Geschlechts zugelassen haben, den Rücken gestärkt, indem er darauf hingewiesen hat, daß nach den EU-Richtlinien auch statistische Beweise als Mittel für die Feststellung einer Diskriminierung herangezogen werden sollen.
Ein niedriger Frauenanteil in bestimmten Bereichen oder in der Führungsetage stellt daher ein Indiz für eine geschlechterdiskriminierende Praxis des Arbeitgebers dar (so bereits das LAG Berlin-Brandenburg – wir berichteten, anders noch das LAG Berlin vor der Geltung des AGG).
Das Bundesarbeitsgericht sieht in einem statistisch niedrigen Frauenanteil allerdings noch keinen Nachweis einer Diskriminierung (wir berichteten).
Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß der Frauenanteil am Bundesarbeitsgericht bei den Richtern immer noch sehr niedrig ist ….