Unfälle im Straßenverkehr sind unangenehm und können im Einzelfall auch viel Geld kosten. Deshalb wird gerade in den Verkehrsunfallsachen sehr oft geklagt. Im Jahr 2013 sind nach statistischen Daten von Destatis von knapp 1.2 Mio Zivilprozessen etwa 10% Verkehrsunfallprozesse gewesen.
Die größte juristische Schwierigkeit beim Verkehrsunfallprozess ist die Wahrheitsfindung. Der Richter kriegt eine Akte auf den Tisch, die zwei – oft sehr gegensätzliche – Geschichten erzählt. Der Kläger sagt A – der Beklagte sagt B und beide meinen, die eigene Version sei die Richtige.
Oft beruht die Divergenz ganz einfach darauf, dass jeder der Unfallbeteiligten tatsächlich meint, der Unfall sei so und so passiert. Diese innere Überzeugung der jeweiligen Partei macht das Verfahren für den Richter allerdings nicht wirklich einfacher. Denn der Richter muss das Urteil aus eigener Überzeugung bewerten und der einen oder der anderen Geschichte Glauben schenken.
In dem deutschen Zivilprozess gibt es für den Richter eine Arbeitserleichterung für die Wahrheitsfindung: der Anscheinsbeweis. Er wird auch Beweis des ersten Anscheins oder auch prima facie Beweis genannt. Hierunter versteht der Jurist eine typische Sachlage, bei deren Vorliegen der Richter aufgrund von allgemein anerkannten Erfahrungswerten einen bestimmten Schadenshergang und bestimmte Verantwortlichkeit unterstellen darf, ohne dass diese positiv durch Beweismittel bewiesen werden müssen.
Liegt eine solche Situation vor, ist es Aufgabe der Partei zu deren Lasten der Anscheinsbeweis greift – diesen zu „erschüttern“. Diese Partei muss also glaubhaft darlegen und nachweisen, dass der Schadenshergang gerade nicht typisch war und daher der Anscheinsbeweis nicht zur Anwendung kommen darf. Diese Aufgabe ist oft für juristische Laien nur schwer zu bewältigen und erfordert manchmal spitzfindige und präzise Argumentation. Daher ist es in diesen Fällen zu empfehlen, einen spezialisierten Anwalt zu beauftragen.
Die Rechtsprechung hat insbesondere für die nachfolgenden Situationen einen Anscheinsbeweis angenommen:
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Auffahrunfälle
Situation: A fährt hinter dem B, als B plötzlich auf die Bremse tritt. A kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und fährt dem B hinten auf.
Anscheinsbeweis: Das Gericht wird in diesem Fall ohne weiteres davon ausgehen, dass A entweder nicht den Sicherheitsabstand eingehalten oder nicht mit angepasster Geschwindigkeit fuhr.
Erschütterung: Dieser Anscheinsbeweis ist sehr schwer zu erschüttern. Es reicht zum Beispiel nicht aus, dass der A nur eine der Fahrzeugseiten des B getroffen hat. Es reicht auch nicht der Vortrag aus, B habe unvermittelt und grundlos gebremst. Nur für den Fall, dass B vorher die Spur gewechselt hat, könnte der A mit Erfolg vortragen, dass er „geschnitten“ worden ist.
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Rückwärtsfahren
Situation: Es gibt mehrere Fallgruppen, Bspw. A fährt rückwärts von seinem Grundstück und kollidiert mit einem dort stehenden oder fahrenden Fahrzeug. Auch Parkplatzfälle fallen hierunter, bspw. wenn aus einer Parklücke rückwärts gefahren wird und mit einem fahrenden, stehenden oder ebenfalls rückwärts ausfahrenden PKW kollidiert wird.
Anscheinsbeweis: Das Gericht wird bei Vorliegen dieser Fallgruppen davon ausgehen, dass der Rückwärtsfahrende unvorsichtig fuhr. Die Gerichte gehen regelmäßig davon aus, dass rückwärtsfahren ein sehr gefährliches Manöver ist. Kann der Fahrer die Situation nicht selbst überblicken, muss er sich gegebenenfalls eines Einweisers bedienen. Kollidieren mehrere Rückwärtsfahrende miteinander, so wird die Haftung quotenmäßig geteilt.
Erschütterung: Auch hier ist die Erschütterung regelmäßig schwierig, weil die Situation aus Sicht des Richters oft eindeutig ist und die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Rückwärtsfahrenden sehr hoch sind. Zugunsten des Rückwärtsfahrenden könnten gefährliche Manöver des anderen Unfallbeteiligten vorgebracht werden. Beispielsweise, wenn er mit einer sehr hohen Geschwindigkeit fuhr und der Schädiger ihn nicht rechtzeitig sehen konnte.
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Vorfahrt
Situation: A fährt von einer Neben- auf eine vorfahrtberechtigte Straße auf und kollidiert dort mit einem vorfahrtberechtigten Fahrzeug.
Anscheinsbeweis: Es wird regelmäßig die Verletzung der Wartepflicht des A unterstellt.
Erschütterung: Der Anwalt muss versuchen plausibel darzustellen, dass beim Einfahren in die vorfahrtberechtigte Straße ein so großer Abstand zum geschädigten Fahrzeug bestand, dass eine Gefährdung für ausgeschlossen gehalten werden musste. Auch kann der Anwalt versuchen darzulegen, dass der Vorfahrtberechtigte mit einer ungewöhnlich hohen Geschwindigkeit fuhr und der Schädiger ihn nicht rechtzeitig sehen konnte.
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Sicherheitsgurt/ Alkohol / Handy
Situation: Es wird bei der Unfallaufnahme festgestellt, dass der Fahrer entweder nicht angeschnallt war, alkoholisiert war (mehr als 1,1 Promille BAK zur Unfallzeit) oder ein Handy unerlaubterweise nutzte.
Anscheinsbeweis: Es wird als bewiesen angesehen, dass diese Missstände zum Unfall geführt haben und daher der Unfall alleine von dem Schädiger zu vertreten ist.
Erschütterung: Hier muss in jedem Einzelfall versucht das „Atypische“ der Situation herauszuarbeiten und überzeugend darzulegen.
Es gibt noch weitere anerkannte Fallgruppen des Anscheinbeweises im Straßenverkehr. All diesen Fällen ist gemein, dass sie die so genannte „Beweisstation“ im Prozess ungemein verkürzen, was unweigerlich dazu führt, dass eine der vorgetragenen „Geschichten“ als unwahrscheinlich abgelehnt wird.
Oft passiert das allerdings viel zu schnell und verkürzt zu Unrecht auch die Rechte des Beweisbelasteten. Gerade in solchen Fällen ist es ratsam, im Verfahren von einem auf Verkehrsrecht spezialisierten Anwalt vertreten zu werden.
Boris Schenker
Rechtsanwalt