Whistleblowing: Unterschied zwischen den Versionen

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Michael W. Felser ist der auf das Kündigungsrecht spezialisierte Rechtsanwalt in der Kanzlei Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte Köln/Brühl [http://www.felser.de] und Betreiber des Portals "Juracity - Recht für Alle!" [http://www.juracity.de] sowie der Themendomain Kuendigung.de [http://www.kuendigung.de]. Er hat einige Arbeitnehmer sachkundig bei Problemen nach einer Anzeige beraten und vertreten. Betriebsräte berät er als Sachverständiger bei Betriebsvereinbarungen zum Thema "Whistleblowing".

Version vom 10. April 2012, 16:57 Uhr

Whistleblowing - Strafanzeige gegen den Arbeitgeber

Urteil des EGMR zum Whistleblowing

Der Fall einer Pflegekraft aus Berlin hat das Thema wieder ins öffentliche Bewußtsein gerückt: Dieser war gekündigt worden, weil sie auf Misstände in einem Altenheim hingewiesen und schließlich Strafanzeige erstattet hatte. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg sah die Kündigung als rechtmäßig an. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rückte die national etwas verrückten Maßstäbe wieder zu Recht und verurteilte Deutschland zur Zahlung einer Entschädigung wegen der aus Sicht des EGMR menschenrechtswidrigen gerichtlichen Entscheidung. Dabei lag das Landesarbeitsgericht Berlin durchaus auf der bisherigen Linie deutscher Arbeitsgerichte, die im Ergebnis dazu führt, daß man sich nicht mehr fragen muss, warum schlimme Misstände in Betrieben nur durch Zufall und die Presse ans Tageslicht kommen. Die Mitarbeiter, die das täglich miterlebt und geschwiegen haben, hatten guten Grund dazu.

Rechtslage in Deutschland zum Whistleblowing

Bei der Weitergabe betriebsinterner Informationen an Behörden, insbesondere in Form von Strafanzeigen, war in Deutschland bis dato größte Vorsicht angesagt. Bei solchen Anschwärzungen legte die ältere Rechtsprechung äußerst strenge Maßstäbe an. Dabei spielte noch nicht einmal eine Rolle, dass die Vorwürfe berechtigt waren. Pointiert ließe sich feststellen: Auch der Rechtsstaat liebt den Verrat, aber nicht den Verräter.

So war z.B. das LAG Düsseldorf der Meinung:

"Teilen Arbeitnehmer-Kraftfahrer einem Gewerkschaftssekretär mit, dass die Kfz auf Anordnung des Arbeitgebers stets überladen werden, und geben sie dazu die Kennzeichen der Fahrzeuge und die nächste Fahrtstrecke an, so dass die Fahrzeuge auf eine Anzeige des Gewerkschaftssekretärs hin polizeilich kontrol-liert werden und der Arbeitgeber bestraft wird, so handeln die Arbeitnehmer treuwidrig; der Arbeitgeber ist zur Kündigung berechtigt."

(LAG Düsseldorf vom 23.10.59 - 5 Sa 358/58, BB 60, 523)

Auch das LAG Baden-Württemberg sah dies ähnlich, jedenfalls dann, wenn dem Arbeitnehmer andere Maßnahmen zuzumuten waren:

"Gibt ein Arbeitnehmer Informationen an seine Gewerkschaft über Arbeitsabläufe im Betrieb weiter, die zu einem Verfahren nach dem OWiG führen können, so kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit ordentlicher Frist kündigen, wenn durch die Gewerkschaft eine Anzeige an das Gewerbeaufsichtsamt erfolgt. Dies gilt selbst dann, wenn die Arbeitsabläufe mit den geltenden Arbeitsschutzvorschriften nicht in Einklang stehen, andererseits den Arbeitnehmer zugemutet werden kann, an Stelle einer Anzeige zunächst andere Maßnahmen zu ergreifen."

(LAG Baden-Württemberg vom 20.10.76 - 6 Sa 51/76, LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 2)

Die beiden Entscheidungen sind zwar bereits älter. Aber auch neuere Entscheidungen liegen noch auf dieser Linie:

"Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitgeber wegen eines Verdachts ein behördliches Verfahren einleitet, ohne ihn vorher zu informieren und ihm von seinem Verdacht Kenntnis zu geben."

(ArbG Berlin vom 29.5.90 - 18 Ca 47/90, EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 31)

Neuerdings wird allerdings eine differenziertere Sichtweise befürwortet. Danach ist entscheidend zu berücksichtigen, welche Motive für das Anschwärzen maßgeblich waren:

"1. Eine vom Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber erstattete Anzeige (hier wegen Steuerhinterziehung) kann einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen (Bestätigung von BAG Urteil vom 5.2.1959, 2 AZR 60/56 = AP Nr. 2 zu § 70 HGB).

2. Will der Arbeitnehmer den Arbeitgeber "fertigmachen", so kann eine Mitteilung an das Finanzamt vom Vorliegen einer strafbaren Handlung nicht als Wahrnehmung berechtigter Interessen anerkannt werden.

(...)

Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 5. Februar 1959 (- 2 AZR 60/56 - AP Nr. 2 zu § 70 HGB) kann eine gegen den Arbeitgeber erstattete Anzeige einen wichtigen Grund zur Kündigung darstellen. In dieser Entscheidung wird bereits ausgeführt, der Begriff des wichtigen Grundes sei nur dann richtig erkannt und richtig angewandt, wenn sich die Zumutbarkeitsprüfung auf alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles erstrecke und diese vollständig und widerspruchsfrei gegeneinander abwäge. Etwas an-deres ergibt sich auch nicht aus inzwischen ergangenen Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte (LAG Düsseldorf, Urteil vom 18. Januar 1961 - 2 Sa 393/60 -, BB 1961, 532; LAG Berlin, Urteil vom 25. November 1960 - 3 Sa 88/60 -, DB 1961, 576; LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 3. Februar 1987 - 7 (13) Sa 95/86 -, NZA 1987, 756; LAG Frankfurt am Main Urteil vom 12. Februar 1987 - 12 Sa 1249/86 -, LAGE Nr. 28 zu § 626 BGB), da auch insoweit die Rechts-anwendung nur unter Berücksichtigung der jeweils gegebenen Besonderheiten des Einzelfalles erfolgte. Eine Rechtsanwendung jedenfalls, die einer Anzeige den Wert eines absoluten Kündigungsgrundes zumessen würde, wäre rechtsfehlerhaft, wobei andererseits nicht unberücksichtigt bleiben kann, dass in jedem Falle geprüft werden muss, aus welcher Motivation heraus die Anzeige erfolgte und ob der Arbeitnehmer hierin eine verhältnismäßige Reaktion zu dem Verhalten des Arbeitgebers sehen durfte (vgl. kritisch KR-Hillebrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rz 302; Preis, Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen, S. 365 ff.; ders. DB 1988, 1444, 1447 f.).

(BAG vom 4.7.91 - 2 AZR 80/91, NV (nicht amtlich veröffentlicht).

Zu Recht hält das Bundesarbeitsgericht eine Einzelfallprüfung für erforderlich. Wenn ein Arbeitnehmer allein aus anerkennenswerten Motiven heraus handelt und die Reaktion verhältnismäßig war, kommt eine Kündigung nicht in Betracht. Allerdings ist nach dieser Rechtsprechung eine Kündigung denkbar z.B. bei Unkenntnis des Arbeitgebers über den Sachverhalt, Unterlassen milderer, insbesondere betriebsinterner Maßnahmen und bei unverhältnismäßig schweren Folgen für das Unternehmen.

Zu berücksichtigen ist, dass sich in vielen Fällen Beschäftigte in einer gewissen Zwickmühle befinden. Im Transportgewerbe ist ein offenes Geheimnis, dass die Fahrer häufig dazu angehalten werden, mit überladenen oder technisch unsicheren Fahrzeugen zu fahren, weil betriebswirtschaftlichen Überlegungen der Vorrang vor der Sicherheit der Fahrer und anderer Verkehrsteilnehmer gegeben wird. Auch übermüdete Fahrer sind an der Tagesordnung, weil bei der Zuteilung von Touren die Ruhezeitvorschriften von der Disposition ignoriert werden.

Das LAG Köln hat in einem weiteren "Truckerfall" etwas realitätsnäher entschieden:

"1. Eine kündigungsrechtfertigende Anschwärzung des Arbeitgebers durch den Arbeitnehmer liegt nicht vor, wenn ein Kraftfahrer den ihm zugeteilten LKW der Polizei zur Überprüfung der Verkehrstüchtigkeit vorstellt, wenn er sachlich be-gründeten Anlass zu Zweifeln hat, wovon allemal auszugehen ist, wenn die Polizei bei dieser Gelegenheit tatsächlich die Verkehrstüchtigkeit des Fahrzeugs (Reifenmängel) feststellt und deswegen sogar die Weiterfahrt verbietet - unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer zuvor vergeblich versucht hat, den Arbeitgeber zur Herstellung der Verkehrstüchtigkeit zu veranlassen. 2. Ob dies anders ist, wenn der Arbeitnehmer bei dieser Gelegenheit weitergehende Vorwürfe gegen den Arbeitgeber erhebt oder gar droht, Öffentlichkeit und Presse einzuschalten, war nicht zu entscheiden."

(LAG Köln vom 23.2.96 - 11 (13) Sa 976/95, LAGE § 626 BGB Nr. 94)

Das LAG Köln hat aber in einer weiteren Entscheidung bestätigt, dass Arbeitnehmer grundsätzlich zunächst versuchen müssen, die Missstände innerbetrieblich abzustellen:

"Anzeigen des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber bei staatlichen Stellen können im Einzelfall eine fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses begründen“ (BAG 04.07.1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a Nr. 74; KR-Fischermeier, BGB, § 626 RdNr.89). Entscheidend ist dabei, aus welcher Motivation der Arbeitnehmer die Anzeige vornimmt, und ob darin eine verhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers auf das Verhalten des Arbeitgebers liegt (BAG 04.07.1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a Nr. 74; BAG 18.06.1970 – 2 AZR 369/69 – AP-Nr. 82 zu § 1 KSchG; KR-Fischermeier, BGB, § 626 RdNr. 449). So hat der Arbeit-nehmer grundsätzlich die Pflicht, sich vorrangig um eine innerbetriebliche Beilegung der Missstände zu bemühen (BAG 05.02.1959 – 2 AZR 60/56 – AP-Nr. 2 zu § 70 HGB; Lan-desarbeitsgericht Baden-Württemberg 29.06.1964 – 2 SA 12/64 – DB 1964, S. 1451; Ar-beitsgericht Berlin 29.05.1990 – 18 Ca 47/90 – EzA Nr. 31 zu § 1 KSchG Verhaltensbe-dingte Kündigung; KREtzel, KSchG, § 1 RdNr. 449; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, § 1 RdNr. 312). Zudem ist zu beachten, ob die erhobenen Vorwürfe der Wahrheit entsprechen oder nicht (EK-Müller-Glöge, BGB, § 626 RdNr. 89; KR-Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 450). Als besonders erhebliche Störung des Arbeitsverhältnisses ist es dabei anzusehen, wenn Falschinformationen an die Presse gegeben werden (BAG 23.10.1969 – 2 AZR 127/69 – EzA Nr. 3 zu § 13 KSchG a. F.; BAG 30.03.1984 – 2 AZR 362/82 – n. v.; KR-Etzel, KSchG, § 1 RdNr. 450)."

(LAG Köln vom 3.5.2000 – 2 Sa 78/00, n.v.)

Whistleblowing von Betriebsratsmitgliedern

Das Bundesarbeitsgericht ist selbst bei Betriebsratsmitgliedern wohl der Ansicht, dass einer Anzeige immer eine vorherigen innerbetrieblichen Klärung vorausgehen muss:

"Es ist in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bislang noch nicht entschieden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Betriebsratsmitglieder zur Anzeige von Gesetzwidrigkeiten an staatliche Stellen berechtigt sind. Die Klägerin hat ohne Zustimmung des Betriebsrats die Anzeige er-stattet. Hiernach ist zweifelhaft, ob die Klägerin allein in Wahrnehmung der Betriebsratsaufgaben des § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG handeln konnte, wonach der Betriebsrat die allgemeine Aufgabe hat, darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften durchgeführt werden. Aber selbst wenn der Betriebsrat als Organ eine Anzeige erstattet, ist zu fragen, ob sich aus dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit (§ 2 Abs. 1 BetrVG) ein Vorrang innerbetrieblicher Abhilfe ergibt (bejahend Fit-ting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl., 1987, § 80 Rz 11), und wenn ja, welche konkreten Schritte vom Betriebsrat zu unternehmen sind. Der Senat sieht keine Veranlassung, diese Fragen im Rahmen des Kostenrechtsstreits ab-chließend zu entscheiden."

(BAG vom 17.2.88 - 5 AZR 502/86, n.v.)

Anonymes Whistleblowing

Nicht jedes Kündigungsschutzverfahren wird vor dem Bundesarbeitsgericht verhandelt, die meisten enden beim Landesarbeitsgericht. Dort ist die Rechtsprechung nicht einheitlich.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Staatsanwaltschaft nach ihren Richtlinien auch anonyme Hinweise verfolgt, sofern deren Inhalt erkennen lässt, dass sie von jemand verfast wurde, der sich mit den Gegebenheiten auskennt ("Insider"), die Gegenstand der Anzeige sind.

Fazit zum Whistleblowing

Bei Anzeigen gegen den Arbeitgeber sollte trotz der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte folgendes beachtet werden:

1. Der Arbeitnehmer muss sich – soweit möglich – um eine vorherige innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Erst wenn darauf keine Änderung des verbotenen Verhaltens eintritt, kommt eine Einschaltung Außenstehender in Betracht. Hiervon kann nur in Ausnahmefällen wie z.B. Eilfällen abgesehen werden. 2. Die Einschaltung Externer muss verhältnismäßig sein. So dürfte bei einmaligen Verstößen mit geringer Schuld eine Anzeige unverhältnismäßig sein. 3. Der Arbeitnehmer sollte den Sachverhalt sehr genau auf Wahrheit und Vollständigkeit überprüfen, da unberechtigte Anzeigen zur fristlosen Kündigung führen können. 4. Von Anzeigen aus Rache o.ä. sollte generell Abstand genommen werden. 5. Im Zweifel ist einer anonymen Anzeige der Vorzug zu geben.

Weblinks

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Juli 2011 (Heinisch ./. Deutschland) CASE OF HEINISCH v. GERMANY (Application no. 28274/08) (leider nur in englisch)[1]

Interviews

Bild.de vom 23.07.2011: Urteil erlaubt Arbeitnehmer-Kritik Darf jetzt jeder über seine Firma motzen? Ein Beitrag von Guido Rosemann mit Interviewzitaten von Rechtsanwalt Felser auf Bild.de zur Entscheidung des EGMR [2]

Autor

Michael W. Felser ist der auf das Kündigungsrecht spezialisierte Rechtsanwalt in der Kanzlei Felser Rechtsanwälte und Fachanwälte Köln/Brühl [3] und Betreiber des Portals "Juracity - Recht für Alle!" [4] sowie der Themendomain Kuendigung.de [5]. Er hat einige Arbeitnehmer sachkundig bei Problemen nach einer Anzeige beraten und vertreten. Betriebsräte berät er als Sachverständiger bei Betriebsvereinbarungen zum Thema "Whistleblowing".